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Serbische Zustände

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Unsere Autorin verbrachte einen Teil ihrer Kindheit in Novi Sad – der zweitgrößten Stadt Serbiens, die von der Donau geteilt und während des »Kosovo Krieges« von der Nato bombadiert wurde. Ein Besuch 16 Jahre später.

Bereits als Kinder haben wir am Sandstrand von Novi Sad gebadet. Damals bereitete mir insbesondere der Abschnitt am Strand, der direkt unter der Freiheitsbrücke durchführt, großes Unbehagen. Heute sind es keine imaginierten Wasserungeheuer, die mich nach wie vor daran hindern, unter der Brücke durchzuschwimmen. Es ist vielmehr die Ungewissheit und der Zweifel, ob sie alle Teile der im April 1999 von den NATO-Bombern zerstörten Brücke aus dem Fluss angeln konnten. Hier sorgt sich über die Brückenteile keiner mehr. Vielleicht sind es ja Sorgen, die sich jemand, der in einer stabilen westlichen Demokratie sozialisiert wurde, erlauben kann. Jemand wie ich, die während der Sommermonate »zu Hause im Urlaub« ist. Jemand wie ich, die 1999 in Deutschland vor dem Fernseher saß und nicht im brennenden Novi Sad in einem Keller.

In den 16 Jahren, in denen meine Familie und ich in Deutschland leben, hat sich in Novi Sad auf den ersten Blick kaum etwas geändert. Nur die Hitze ist diesen Sommer selbst für serbische Verhältnisse ungewohnt. Diese muten seit über 20 Jahren schizophren an. Denn schließlich ist Serbien ein Land, das sich im andauernden Prozess eines politischen, sozialen sowie moralischen Verfalls befindet. Was lässt sich schon erwarten von einem Land, in dem seit ebenfalls 20 Jahren die Frage diskutiert wird, wie die Staatsgrenzen verlaufen müssten und tagelang auf den Titelseiten thematisiert wird, in welche Villa nun der neugewählte Staatspräsident Tomislav Nikolić einziehen wird. Derselbe, der Anfang der Neunziger im serbischen Parlament auf einen Zuruf hin aufstand und antwortete, er könne nichts verstehen, er sei zu taub, weil eben von der Front gekommen. Was darf man noch hoffen, wenn man Teil einer Gesellschaft ist, in der das Verhältnis zwischen Werktätigen und Rentnern bei 1 : 1 liegt? Wie (über‑)leben die Menschen in einem Land, in dem das Durchschnittsgehalt bei 330 Euro liegt; in dem 11 % der Bevölkerung unter der absoluten Armutsgrenze leben, in dem trotz oder gerade wegen des Etatismus zehntausende Verwaltungsangestellte an einem Staatsapparat werkeln, der so marode und dysfunktional ist, dass Ex-Präsident Boris Tadić den Abbau von 10.000 Verwaltungsstellen versprechen musste, um die Wahl 2008 zu gewinnen – seit dem jedoch 6000 neue eingerichtet wurden; in dem 2011 das Staatsdefizit bei 44,5 % des BIP und die Bruttoauslandsverschuldung bei 21, 4 Mrd. Euro lag? In dem nur 7 % eine Hochschulausbildung genießen dürfen und die wenigen Privilegierten Studiengebühren über 1500 Euro pro Jahr zahlen müssen? Was bedeutet es, Zuständen ausgesetzt zu sein, die bedingen, dass heute auf einer Geburtsstation bereits die dritte Generation auf dem gleichen Geburtstisch zur Welt kommt?

Flaniert man abends in der Innenstadt durch die zentrale Straße Zmaj Jovina ulica Richtung Miletić-Platz, erkennt man vom chronischen Systemverfall allerhöchstens einige Umrisse, die in der Nacht als Relikte einer bereits vergangen Zeit erscheinen: Zu-Vermieten-Schilder oder über ganze Schaufenster geklebte »Ausverkauf«-Banner. An einer MANGO-Filiale ein Schild, das zu einem Kauf auf dreimonatige Ratenzahlung mit Schecks einlädt.

Ich stehe vor der beleuchteten Kathedrale auf dem Miletić-Platz. Ich sehe das, was ich kenne: das mit Blumengestecken verzierte, unlängst renovierte Rathaus und davor bettelnde Roma-Kinder, sich zwischen den Beinen der jungen, zurechtgemachten Leute tummelnd. Meinem Empfinden nach scheint irgendwie alles wie immer zu sein, auch waren die Roma-Kinder irgendwie schon immer da, am Rande der Gesellschaft und doch ein Teil der allabendlichen Stadtgesellschaft. Ich denke an Kinder, die im ehemaligen Jugoslawien geboren wurden – diejenigen, die 1992 in Sarajevo keine Wahl hatten und an eben diejenigen, die mir auf dem Miletić-Platz nach einem Dinar die Hände entgegenstrecken, weil sie keine Wahl haben und diejenigen Kinder, die heute in meine ehemalige Grundschule gehen und dieselben Plumpsklos benutzen müssen, wie wir 1993, weil auch sie keine Wahl haben.

Im Mai 2012 hatten die Menschen in Serbien die Wahl – eine zwischen Pest und Cholera, zwischen Vergangenheit und Vergangenheit. Die Stichwahl am 20. Mai gewann Tomislav Nikolić, von 1993 bis 2003 stellvertretender Chef der rechten Serbischen Radikalen Partei und enger Vertrauter von dessen Gründer Vojislav Šešelj – selbst so wie Nikolić freiwilliger Tschetnik. Heute sitzt Šešelj in Den Haag auf sein Urteil wartend, während Nikolić, seit 2003 Vorsitzender der damals neu gegründeten Serbischen Fortschrittspartei (SNS), sich feierlich Anfang Juni ins neue Amt einführen ließ. Die Präsidenten Sloweniens, Mazedoniens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas wollten Nikolićs großem Moment nicht beiwohnen.

Das neue alte Programm der SNS-Nationalisten verspricht natürlich alles andere als eine Utopie. Dessen sind sich die Menschen durchaus bewusst. Das Wahlergebnis ist vielmehr eine Antwort auf jahrelange Misswirtschaft und Korruption der unter Führung der Demokratischen Partei Serbiens, und darauf, dass das politisches Programm der alten Regierung an allen sozialen Realitäten vorbeigegangen ist. Der Frust und die Verzweiflung der Menschen artikuliert sich nun als Boomerang. Auf eine Einsicht der Demokraten warten deren Kritiker allerdings vergebens. Tadić verhält sich lieber wie ein frustriertes Kleinkind, das nicht versteht, warum es schmerzt, wenn man hinfällt: sichtlich gekränkt und mit seiner narzisstischen Wut kämpfend. Und Wut macht blind. Die DS ignoriert nach wie vor, dass die Schicht zwischen denjenigen, die über soziale und politische Macht und zudem über ungeheure Geldsummen verfügen und denen, die am Existenzminimum leben, eine sehr dünne ist. Er und seine Parteifunktionäre missachteten hartnäckig die Umstände. Bspw. die, dass die Arbeitslosigkeit bei 27 % liegt – Tendenz steigend; dass 2011 der Jahresdurchschnitt der Inflationsrate bei 9,9 % lag – Tendenz steigend. So ignorierte auch der neue Landwirtschaftsminister den Rückgang in der Rinderzucht, die im Vergleich zu 1990 um 40 % eingebrochen ist; ebenso die 50.000 verlassenen Bauernhöfe. Selbstsicher erklärt er jedoch, die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Gütern – Serbiens stärkster Exportzweig – werde dem Staat dieses Jahr 3 Mrd. Euro einbringen. Was er nicht erwähnt, ist, dass die serbischen Weizensilos leer sind, dass Serbien nur noch über 150.000 Tonnen Weizen verfügt, jedoch jeden Monat 100.000 Tonnen Weizen benötigt werden, dass also 1,5 Millionen Tonnen gekauft werden müssen, dass es keine Rinder und auch kein Hühnerfleisch in die EU exportieren kann, wegen der Zuchtbedingungen und keine Eier wegen der Salmonellengefahr.

Seit den Wahlen sind alle Parteigänger fleißig in Serbien. Die Posten, die Sessel, die Parteibücher und Parteiprogramme werden gewechselt und gehandelt wie die Tomaten auf dem Markt – sieben Tage die Woche. Das neue Parlament hielt Ende Juli seine erste Sitzung ab. Diese dauerte ganze 15 Minuten. Aber die Menschen haben Grund zur Hoffnung, dass die Vernunft in Serbien schlussendlich siegen wird: der Sozialist Ivica Dačić (SPS), ehemaliger Pressesprecher von Milošević, neuer Ministerpräsident und neuer Innenminister, will Veränderungen. Er erklärt, es werden in Zukunft keine Regierungssitzungen über Telefon abgehalten werden – außer in Notfällen. Äußerst ambitioniert zeigt sich auch der neue Verteidigungsminister Alexander Vučić, der zusammen mit Nikolić Freischärlerverbände nach Bosnien und Kroatien geschickt hatte. Für ihn muss kurz die Verfassung, an der die alte Tadić-Regierung bereits so gründlich gewerkelt hatte, geändert werden. Denn Vučić will ganz schnell ganz groß raus. Der angekündigte Kampf gegen die organisierte Kriminalität sowie gegen die Korruption hat als Wahlkampagne guten Dienst erwiesen. Nun konzentriert er sich auf Altbekanntes: er will die drei Geheimdienste koordinieren. Das bedeutet, er wird über das Militär sowie über 46.000 serbische Polizisten und 65.000 Securities, die bislang auch nicht dem Gesetz, sondern einer politischen Elite unterstanden, verfügen können.
Dabei wird Vučić aufräumen, wie dies Tradition ist – politisch motivierte Strafverfolgung, politisch motivierte Anklagen und politisch motivierte Urteile. Es ist also in der Tat alles wie immer in Serbien.

Es ist Sonntagnachmittag. Ich fahre über die Freiheitsbrücke in Richtung Kamenica. Dort, in den weissen Wohnblocks, besuche ich Andrej und Sanja. Ich weiss, sie wird etwas gekocht haben und Andrej und ich werden den Tisch decken, so wie wir es vor 20 Jahren auch taten. Nun erscheint mir der Tisch allerdings viel kleiner.
Andrej lief immer pfeifend durch das Treppenhaus. So kündigte er sich an, wenn er mich zum Spielen abholte. Wir spielten dann draußen, am liebsten in den Büschen hinter dem Wohnblock, bis es dunkel wurde und unsere Mütter uns von den Fenstern aus zum Abendessen riefen. Andrej war Jahrgangsbester. Er hat ein Einser Ingenieur-Diplom an der Technischen Fakultät Novi Sad gemacht. Einen Master zusätzlich, und noch einen Master zusätzlich zum zusätzlichen Master. Seit zweieinhalb Jahren sucht er Arbeit und Andrej stellt keine Ausnahme dar – viel eher die Regel. Sanja und ich sitzen auf der Couch. Sie sagt, sie hofft natürlich, dass er bald die Möglichkeit erhalten wird, ins Ausland zu gehen und zugleich, so sagt sie, ist es die schlimmste Vorstellung einer alleinerziehenden Mutter, dass zwischen ihr und ihrem einzigen Kind tausende von Kilometern liegen. Dann gibt sie mir die Fernbedienung. Es ist 18:30 Uhr und der Oppositionssender B92 sendet Nachrichten. Der Gouverneur der Serbischen Nationalbank, Dejan Šoškić, lässt ausrichtet, er sei nicht bereit, seinen Posten aufzugeben. Dies wäre zwar im Sinne der neuen Koalitionsregierung zwischen der Serbischen Fortschrittspartei (SNS), den Sozialisten (SPS) und den Vereinten Regionen Serbiens (URS) aber im Grunde gesetzwidrig. Denn sein Mandat läuft erst kommendes Jahr aus. Sanja sagt mir, ich solle umschalten, dies alles ertrage sie keine drei Minuten. Also schauen wir eine spanische Serie – auf Spanisch mit kyrillischen Untertiteln und essen Wassermelone.

Drei Wochen später wird die mehr oder minder unabhängige serbische Nationalbank in ihre Schranken verwiesen. Ganz besonders engagiert bei dem Thema der Zentralbank, die noch über 10 Mrd. Euro an Devisenreserven besitzen soll, gibt sich im neuen Kabinett mal wieder Alexander Vučić, der Mann mit der Privatarmee-Phantasie. Der Gouverneur der serbischen Zentralbank habe seinen Platz dem ehemaligen Präsidenten zu verdanken, so Vučić in der Tageszeitung Blic. Außerdem sei Šoškić schließlich keine heilige Kuh. Stattdessen sei die Parteikollegin und SNS-Vizevorsitzende Jorgovanka Tabaković fachlich mehr als qualifiziert für diesem Job. Die Quotenfrau in der Führungsspitze hatte erst kürzlich erklärt, sie verzichte auf einen Posten im neuen Kabinett. So viel Altruismus wurde von Vučić dann auch belohnt. Tabaković ist die neu ernannte Vorsitzende der Nationalbank. Dafür musste nur schnell das Gesetz geändert werden. Da man gerade dabei war, umzustrukturieren, wurde auch kurzerhand der Leiter des staatliche Steuerdienstes Anfang August von einer URS-Parteigängerin abgelöst. Das Absetzten sei keine politische Entscheidung gewesen, sondern das Resultat einer verfehlten Führung der Behörde, so der neue Finanz‑ und zugleich Wirtschaftsminister Mlađan Dinkić (URS) für Blic.

Auch dieser arbeitet derzeit auf Hochtouren, insbesondere an seinem Image. Ähnlich modern wie der Staatspräsident Nikolić kommuniziert auch Dinkić mit der Öffentlichkeit. Per Twitter proklamiert Dinkić, er werde das Jahr 2012 nutzen, um die finanzielle und wirtschaftliche Lage des Landes zu verbessern und die vielen Vorurteile und Missverständnisse betreffend seiner Person auszuräumen und zwar »jetzt oder nie«, so der Minister entschlossen. Ende 2013 wird Bosch ein Werk im Norden des Landes aufmachen und damit ganze 60 neue Arbeitsplätze schaffen. Dinkić selbst, so proklamiert er stolz, werde der erste sein, der einen Scheibenwischer kauft – auf Kredit.

Mit den Schmuddelkindern will ja bekanntlich keiner Spielen. »Bis wir der EU beigetreten sind, wird kein anderer mehr drinnen sein«, erklärt mir Boki, ein alter Freund, während wir an der neugemachten Donaupromenade spazieren. Es soll ein Witz sein und Boki lacht. Er ist Absolvent des Grafikdesigns und hat nach monatelanger Suche nun einen Job beim Zoll, dort ein Gehalt von 300Euro und eine 16 Jahre alte Uniform. Dann zuckt er mit den Schultern. In Serbien ist man phlegmatisch und seit den Ereignissen im Jahr 2000 schwer von der Straße enttäuscht. Denn die Menschen sehen, was die Straße in jenem Oktober ihnen gebracht hatte: Vojislav Koštunica (DSS) samt quasi-demokratischen Rattenschwanz und Zustände, in denen neben allem anderen auch Argumente an Wert verlieren und sich eine politische Elite konstant außerhalb der verfassungsrechtlichen Maßstäbe setzt. Nikolić sei als Repräsentant des Landes eine einzige Katastrophe, meint Boki. Ihm graut vor dem Schlimmsten, sagt er mir. Aber was könne man schon tun? Ich frage mich, ob das Schlimmste nicht bereits passiert ist. Ist es nicht bereits an jenem Tag passiert, als ehemalige Kriegsgeneräle in DSS‑ und DS-Regierungssesseln platziert wurden, als der Ministerpräsident Zoran Djindjić ermordet wurde, als vom serbischen Parlament die Srebrenica-Resolution abgelehnt wurde, als in Belgrad die Teilnehmer der Gay-Parade angegriffen wurden oder als Barrikaden am Grenzübergang Serbien-Kosovo errichtet wurden oder auch als Nationalisten ausländische Botschaften in Belgrad in Brand steckten? Die meisten dieser Dinge geschahen zu Amtszeit von Boris Tadić. Aber vielleicht hat Boki recht wenn er hinzufügt, Demokratie sei etwas für ruhige Zeiten.

Es ist Freitagabend in Novi Sad. Die Innenstadt gleicht wie immer im Sommer einem Laufsteg und mir scheint es, als wäre ich die einzige Frau in der ganzen Zmaj Jovina ulica, die unpassend angezogen ist. Es ist eines der seltenen Momente, in denen ich mich fremd in einer altbekannten Umgebung fühle. Nicht nur weil T-Shirt, Jeans und Sneakers selbst für die Nacht zu warm sind, sondern auch weil ich gerade in einer Gesellschaft umher spaziere, in der insbesondere meine Generation nach wie vor an den Folgen der Neunziger Jahre leidet. Manche von ihnen haben ein Land jenseits der serbischen Grenzen nie gesehen. Den meisten von ihnen war die Möglichkeit nicht gegeben, Anerkennung für etwas als subjektiv lohnend Empfundenes zu bekommen. So bleibt vielen nur der eigene Körper, an dem man arbeitet und der zum sozialen Kapital avanciert. Aber irgendwie scheinen alle um mich herum trotzdem glücklich zu sein. Schließlich ist man jung und schön und elegant gekleidet, man amüsiert sich und gibt sich selbstbewusst. In der Nacht verschwindet eben Vieles oder ändert zumindest seine Erscheinung. Ich schaue mir diese Modenschau also an und wundere mich über die nächtliche Metamorphose. Doch im Grunde verstehe ich sehr wohl: am nächsten Tag werden sie alle wieder spüren, dass der Weg, der nirgendwo hinführt, sich unendlich anfühlen kann. Besonders in einem Land, das keinerlei Verhältnis zu seiner Vergangenheit entwickeln will.

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